Spex “Grandioses Album”/GERMAN   (Read)

Pluramon ist der Projektname, unter dem sich der umtriebige Avantgarde-Elektroniker Marcus Schmickler, der an der Kölner Musikakademie Orchesterleitung und Komposition studierte, am weitesten dem limitierten Format ›Pop-Song‹ nähert. Hier dürfen Emotionen das Zepter halten, die üblicherweise aus den abstrakten Strukturen der sonst betriebenen Konzeptkunst zwischen Neuer Musik, Chorwerken und Minimal Music ausgeschlossen sind.

Auf dem vierten Pluramon-Album »The Monstrous Surplus« ist das nicht anders. Wie schon beim Vorgänger »Dreams Top Rock« arbeitete Schmickler mit der Torch-Chanteuse Julee Cruise zusammen. Menschen mit Filmgeschmack ist sie als Sängerin wundervoll kitschig-kranker Balladen bekannt, die Angelo Badalamenti für Produktionen David Lynchs komponierte. Daneben singt die Sängerin und Schauspielerin Julia Hummer auf vier Stücken, während die Schriftstellerin, Malerin und frühere Spex-Redakteurin Jutta Koether auf zwei Tracks mit manifestartigem Sprechgesang mitwirkt. »The Monstrous Surplus« muss als Teil der mitunter als ›Nu-Gaze‹ apostrophierten Renaissance dessen bezeichnet werden, was in der englischen Presse Ende der achtziger bzw. Anfang der neunziger Jahre als ›Shoegaze‹ bezeichnet wurde (vgl. dazu auch: Konrad Feuerstein über Pluramon und Beach House, »Schlieren aus weißem Rauschen«, Spex #310). Der Musik von Bands wie My Bloody Valentine, Slowdive, Seefeel oder Cranes war gemein, dass zarte, desexualisierte und ätherische Stimmen gegen flirrende Gitarrenkaskaden ansangen, die den Hörer in einen psychedelisierenden noisy Soundstrudel rissen. Wohl erstmals in der Pop-Historie ging die qua elektrischem Feedback betriebene Entfesselung des Geräusches nicht mit Machismo und rebellisch-destruktiven Selbstermächtigungsgesten einher. Statt seinem Gegenüber frech ins Gesicht, blickte der neurotisch verfeinerte ›Schuhstarrer‹ sowohl auf als auch vor der Bühne lieber nach unten. Das Erbe dieser ästhetischen Melancholiker, dieser Caspar David Friedrichs des Sounds, die im Meer ausfransender Gitarrenklänge ihrer Fragilität und Vergänglichkeit auf eine Weise inne wurden, die traurig und lustvoll zugleich war, tritt Pluramon nach dem Vorgängeralbum einmal mehr an. Klangbild und Stimmung erinnern zudem bisweilen an den Dream Pop der Cocteau Twins und die Art-Popper von Piano Magic, mitunter gar – beispielsweise hinsichtlich der Aufgipfelungsdramatik des Eröffnungsstückes »Turn In« – an das beste The Cure-Spätwerk »Disintegration« von 1989.

»The Monstrous Surplus« scheint von der ersten Sekunde an von einer Gewissheit durchdrungen: Wenn man nicht gerade ums Überleben kämpft, gibt es außer der Liebe
nichts, das im Leben wichtig ist. Die trotz ihrer Verhallung eindringlichen, elfenhaften, aber nie entkörperlichten Stimmen Hummers und Cruises lassen sich meist nur schwer voneinander unterscheiden. Allenfalls lässt sich feststellen, dass sich die 50-jährige Cruise noch etwas kleinmädchenhafter anhört. Ob sie nun mit zuckersüßer Morbidezza im eröffnenden »Turn In« flüstert, wispert und sehnt oder Hummer in der ergreifenden Ballade »If Time Was On My Side« – einem neuarrangierten Stück von Hummers Album »Downtown Cocoluccia« – somnambul von der fremden und seltsamen Welt der Liebe singt: Der Gesang beider übt einen seltsam trostbringenden Effekt aus. An der von Schmickler selbst im Duett mit Hummer gesungenen erhebenden Ode an die Liebe, »Border«, kann man sich – ähnlich wie bei der formidablen Coverversion von »We Have All the Time in the World« durch My Bloody Valentine vom »Peace Together«-Sampler – wieder und wieder betrinken. Die Auflösungsverheißung, welche der Liebe als Glücksversprechen idealiter immer innewohnt, wird hier adäquat durch trotz ihrer Verschwommenheit filigrane und zarte Noisestrudel abgebildet. Kritikfähigkeit, Distanz, das Abwägen des Intellekts sind – sieht man von Jutta Koethers etwas angestrengt-seminarhaften Lyrics zu »Fresh Aufhebung« ab – meist anderswo, zumindest in einem Außerhalb der Musik. Selbst ein grobes Stampfstück wie der Punk-Klassiker »If the Kids Are United« von Sham 69 lässt sich qua Ästhetisierung entrohen und deproletarisieren: Julia Hummer singt es in einer betörenden Mischung aus Melancholie, Trotz und Traumverlorenheit. Musikalische und sprachliche Semantiken werden sinntransgressiv geschwächt, erstere durch dekonturierende Fuzziness, letztere durch Flüstern und Verwaschungseffekte. So wird Vielheit in einem formal mystischen Prozess zur Einheit verschmolzen. Ich nehme an, dass der Komponist, Elektronikpionier und Privatmythologe Karlheinz Stockhausen dergleichen im Sinn
hatte, als er dem Zentrum der vierten Region seiner »Hymnen«-Komposition (1967/68), der Schweiz, das utopische Reich »Hymnunion« in der »Harmondie« beigesellte. Regiert wird es von ›Pluramon‹, der das Plurale monadisch in sich vereint.

Das alles lässt sich freilich auch wesentlich kürzer formulieren: grandioses Album!

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